Botschafter der Streuobstwiesen enteignet

Wenn man bei uns im Dorf vom Wendehals spricht, denkt man an einen Opportunisten, der nach 1989 allzu eilfertig der Staatspartei den Rücken zukehrte, um neue Chancen wahrzunehmen.

Hier geht es um den richtigen Wendehals Jynx torquilla, den drosselgroßen Zugvogel aus der Großfamilie der Spechte. Letztes Jahr noch wurde er in der Feldflur von einem Jäger gesehen und gehört. Jetzt im späten Schneewinter macht es noch keinen Sinn, nach ihm Ausschau zu halten. Aber nach Ostern erwarten wir unseren Wendehals nach Zugvogel-Fahrplan zurück.

Ihm steht eine böse Überraschung bevor: Die Reihe alter Apfelbäume, die den Mittelpunkt seines Lebensraumes gebildet haben, ist ratz-fatz abgehackt worden. In einem dieser Bäume hatte Ehepaar Wendehals seine Bruthöhle.

Wo ein Wendehals leben soll, muss alter Obstbaumbestand vorhanden sein. Denn ohne natürliche Baumhöhlen geht es nicht. Der Wendehals ist zwar ein Specht, aber ohne Meisterbrief im Zimmermannshandwerk. Er kann sich keine Höhle zimmern wie die anderen Spechte. Er ist auf natürliche Höhlen angewiesen.

Der Wendehals gilt als Botschafter der Streuobstwiesen. Jeder Zuzug in solch ein Kulturlandschaftsbiotop wird in der Lokalpresse gefeiert. Sein Wegbleiben gilt umgekehrt als Indikator für die weitere Verödung der Landschaft.

In dieses sensible Szenario sind die Kettensägen hereingebrochen. Wer hat was mit wessen Erlaubnis oder auch nach eigenem Gutdünken und in eigener Ahnungslosigkeit veranlasst und ausgeführt? Diesen Streit werden BürgerInnen und Behörden auszutragen haben.

Acht alte Apfelbäume in der Feldflur sind ein kostbares öffentliches Gut, das höchstens in einem transparenten und gesetzeskonformen Verfahren angetastet werden darf – zumal die Baumsenioren keine Gefahr für Menschen waren.

Selbst wenn aus dem Katzenjammer über den Baumfrevel der Wille zur Wiedergutmachung, sprich Nachpflanzung, erwachsen sollte, die Wendehälse werden 2013 nicht brüten, und unzählige Nachkommen werden nicht geboren werden. In unserer Zuckerrüben- und Maissteppe sind die Chancen auf eine unbesetzte Wendehalswohnung nahe Null. Und es dauert ein volles Menschenleben, bis Bäume alt und stark genug sind, natürliche Höhlen zu bilden.

Die Naturschützer werden eine weitere Vogelart im Umland von Magdeburg auf die Vermisstenliste setzen müssen.

Harald Rohr, März 2013