Bäume vertragen was


„Leute, regt euch nicht auf! Das bisschen Kettensägenmassage steckt eine erwachsene Linde locker weg. Äste ab, ratzeputz? Na und?

Du kannst stehen bleiben und warten, wie sie ihre ersten Nottriebe schiebt. Im nächsten Sommer ist sie wieder richtig grün. Das Laubfegen im Herbst geht hoffentlich trotzdem ratz-fatz über die Bühne. Und bei den Faulstellen soll mal einer beweisen, dass das was mit unserer Schnibbelei zu tun hat.“

Friedhofslinde nach Brutalschnitt: Ohne Feinäste und Blätter keine Synthese und keine Ernährung!

Ich erlaube mir, auszusprechen, was ehrbare Mitbürger denken. Und ich muss zugeben, sie haben in einem Punkt recht: Schwerverletzte haben mitunter ein langes Leben.

2014 begegnet uns der Erste Weltkrieg auf allen Kanälen. Und ehrlicher als früher ist vom Schicksal der Opfer dieses ersten industrialisierten Völkermords auf Gegenseitigkeit die Rede.

Die meisten Toten hatten es bald hinter sich. Die Schwerverwundeten mussten weiter leben, manche noch ein halbes Jahrhundert.

Überall dieselbe Horrorgalerie: die Zitterer, deren Körper nie mehr zur Ruhe kam, die jungen Menschen ohne Gesichter, ohne Münder – von Amputationen, leeren Augenhöhlen und dergleichen gar nicht zu reden.

Sie haben alle weiter gelebt. Ihre Herzen und Gehirne waren noch jung und überlebenswillig. Aber was für ein Leben war das – für sie selbst und für die, die ihnen nahe standen? Die Hilfsmaßnahmen waren lächerlich. Propagandafilmchen zeigen die Armamputierten, die an ihren Prothesen allerlei feinmechanisches Werkzeug hatten und jetzt in der Fabrik für den Sieg schrauben durften – und daneben die Realität der Beinamputierten, die sich auf ihrem Rollbrettern jahrelang Almosen erbettelnd durch die Städte schoben.

Der Vergleich von Baum und Mensch ist grob. Aber ist er falsch im Sinne der Biologie, der Wissenschaft vom Leben? Ein Mensch braucht alle Sinne und alle Gliedmaßen, die ihm in einem Krieg ruiniert werden können. Nichts davon ist entbehrlich. Jede nicht verheilende Wunde ist ein bleibender Einschnitt, der die Lebenskraft schwächt. Nichts ist wie vorher. Und niemand hat die Höllenfahrten aufgeschrieben, die Ungezählte erduldet haben.

Ein Baum ist uns Menschen darin gleich, dass nichts an seiner biologischen Ausstattung überflüssig ist. Alles was er ist und kann, braucht er, um seinen Platz im Kreislauf des Lebens auszufüllen. Er mag nach einer irreparablen Tortur noch eine Reihe von Jahren weiter leben, aber eine Linde ohne arttypische Krone ist ein menschengemachtes Monstrum und keine Linde.

Unsere Linde wird nicht alt werden und nicht imstande sein, ihre biologische Aufgabe als Heimat für viele Lebewesen, als Nahrungsquelle, als Erzeugerin von Sauerstoff, als Klimahelferin auszufüllen. Und natürlich auch nicht ihre schönste Aufgabe: nämlich der im Volksgedächtnis besondere Baum zu sein, unter dem sich Jung und Alt treffen, um ihre Gemeinschaft zu feiern.

Aber letzteres ist den Lindenhackern und ihren Auftraggebern wahrscheinlich sowieso egal.

Harald Rohr