Auf der Lindenstraße wurden mal eben acht alte Linden mit Steiger und Kettensäge von ungelernten Gemeindearbeitern ihrer Schönheit und Vitalität beraubt – vermutlich, weil Anwohner mit genug „Vitamin B“ sich mit lokalen Entscheidungsträgern kurzgeschlossen haben. Da kommt heftiger Bürgerunwille auf, nicht nur bei mir.

Aber bin ja nur zugezogen und kann nicht mitreden, wenn es um das Zusammenleben der Leute hier in diesem Bördedorf während und nach der DDR-Zeit geht. Darum hat mir die Stimme einer alten Frau so sehr geholfen.
Ganz schlicht, sie scheint nach Worten zu suchen, spricht sie davon, wie schlimm sie den Anblick der zusammengestutzten Bäume findet, um dann in eine andere Zeit zu springen. „Die Bäume waren ja schon da, als ich noch klein war. Sie waren damals schon groß. Unter den Bäumen haben wir aus Herbstlaub Hütten gebaut und darin gespielt. – Ja, so war das,“ setzt die Stimme noch einmal an. Mehrfach dreht sich das Gespräch im Kreis, wie um die Wahrhaftigkeit der Aussage zu beschwören. Zugleich ist es erkennbar das, was man aus der Distanz Trauerarbeit nennen kann.
Ein bodenständiger Mensch, der seit der Kindheit bis in seine alten Tage diese großen Linden zu seiner Welt gezählt hat, versteht diese Welt nicht mehr. Schon in der Nazizeit, als diese jetzt trauernden Alten die Dorfkinder waren, waren Bäume imstande, zu Kindern zu sprechen; und Kinder hatte ihre Art zu antworten. Auch wenn das Kurzzeitgedächtnis gelitten hat, die alten Herzensangelegenheiten sitzen.
Ich fürchte, dass keine Baumschutzsatzung, wo es sie denn gibt, und keine Umweltrichtlinie dieses Recht auf den Baum der Kindheit in Paragraphen fassen kann.
Aber was die Paragraphen nicht fassen, das sollten Bürgerinnen und Bürger in ihre Hände nehmen und in ihre Willensbildung einfließen lassen. Meine Befangenheit, für die wenigen großen Bäume unseres Dorfes den Mund aufzumachen, hat durch dieses Gespräch abgenommen.
Harald Rohr (2014)
